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Der Nasenschleim

Eine Kurzgeschichte von Nathalie Mittag

Sie spürte ihren warmen Atem. Die Luft war stickig. Sie fragte sich, wieso sie sich ausgerechnet auf diesen Platz setzte. Vermutlich, weil der Rest des Busses bereits voll war. Neben ihr saß eine alte Dame, auf dem Schoß eine Handtasche, die Arme verschränkt. Normalerweise setzte sie sich nicht neben Fremde. Schon gar nicht neben alte Menschen. Doch an diesem Morgen fühlte sie sich nicht danach, im engen Gang des Busses zu stehen. Ihr Kreislauf machte ihr zu schaffen und sie wollte es nicht riskieren, zusammenzusacken. Erst recht nicht mit der Atemschutzmaske, durch die sie ohnehin so schlecht Luft bekam.

Sie fing an zu schwitzen. Ihr lief die Nase. Taschentücher hatte sie keine dabei. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als ihren herauslaufenden Nasenschleim hochzuziehen. Sie fühlte, wie er wieder nach unten wanderte. Nun war er an ihrem Nasenloch angekommen. Was tun? Nochmal hochziehen. „Grundgütiger!“, ertönte es in ernster Stimme neben ihr. Es kam von der alten Dame. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie diese ihren Kopf schüttelte. Sie merkte, wie in ihr ein leichtes Gefühl von Scham aufstieg. Mit gesenktem Blick ließ sie ihren Nasenschleim ab jetzt hinunterlaufen.

Ihre Atemschutzmaske verdeckte diese Peinlichkeit, die sich langsam ihren Lippen näherte. Doch sie hielt es nicht lange aus, zog ihre völlig durchnässte Maske hinunter und versuchte sich den Schleim unauffällig mit ihrem Handrücken aus dem Gesicht zu wischen. Sie fühlte sich beobachtet. Viele entsetzte Augen starrten sie an. Sie merkte, wie ihr Gesicht von einer schambedingten Röte überfallen wurde. Schnell zog sie sich die Maske wieder hoch. Ihre Knie fühlten sich weich, ihre Füße ganz schwer an. Säße sie nicht, wäre sie wohl im Erdboden versunken. 

Hatschi! (Qulle: Openclipart)

Ihr fiel auf, dass die alte Dame auf einmal ganz dicht am Fenster saß. Diese musste wohl ein gutes Stück von ihr weggerutscht sein, als sie mit der Beseitigung ihres Nasenschleimes beschäftigt war. Immerhin sagte die alte Dame diesmal nichts. Unangenehm war es ihr trotzdem. Und als wäre das nicht schon genug, merkte sie, wie sich in ihrer Nase ein leichtes Kribbeln ankündigte.

Sie musste daran denken, was sie tun könnte, wenn es sich nicht verhindern ließe. Wie wohl die Menschen darauf reagieren würden und was wohl aus der alten Dame werden würde. Und da saß sie nun. Am Handrücken ihren abgeschmierten Nasenschleim, eine, ihr halbes Gesicht bedeckende, durchnässte Atemschutzmaske und dieses ungeheuerliche Kribbeln, das sich bis in ihr Gehirn zog. Ein Häufchen Elend. Eines, das kurz davor war, die alte Dame buchstäblich mit seinem Elend anzustecken. Und wieder fragte sie sich, wieso sie sich ausgerechnet auf diesen Platz gesetzt hatte. 

Noch war es nur ein Kribbeln. „Zum Glück“, dachte sie. Doch früher oder später würde sich ihre Nasenschleimhaut dem Reiz ergeben und für eine fontänenartige Explosion sorgen. Und während sie sich ihre Gedanken darüber machte, wann es dazu kommen würde, verspürte sie ein wahnsinniges Durstgefühl. Die Hitze und die stickige, verbrauchte Luft machten ihr zu schaffen. Ihr war heiß. Also griff sie nach ihrer Wasserflasche und zog sich ihre durchnässte Maske unters Kinn. Sie nahm einen großen Schluck und verschloss die Flasche. 

„Entschuldigen Sie, ich muss an der nächsten Haltestelle raus“, sagte die alte Dame im selben Moment und schaute ihr dabei tief in die Augen. Diese trug keine Maske. Der Bus bremste, die Nase kribbelte. Und dann passierte es …

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