„Stella – Ich hab dich lieb!“
Eine Theaterkritik von Emilia Gottermann.
„Stella – ich hab dich lieb!“ Das ruft der narzisstische Philippe (Philippe Goos) jedes Mal, wenn er seiner Haushälterin Stella (eigentlich gespielt von Irene Kugler) durch sein herrisches Verhalten und seine sich minütlich verändernden Beschwerden auf die Nerven geht. Und das ist es, worum es in Anne Lenks Version von Molières „der eingebildete Kranke“ geht. Der wohlhabende Vater Philippe bildet sich seine Krankheiten ein, oder benutzt diese zumindest, um sein eigentliches Bedürfnis zu befriedigen. Nämlich die Angst vor dem Alleinsein; vor dem Kontrollverlust. So zahlt er Unmengen an Geld für Anwendungen und Behandlungen an seinen Hochstapler-Arzt Dr. Dr. Doppelbauer (Sebastian Jakob Doppelbauer) und versucht eine Hochzeit für seine Tochter Lea Sophie (Lea Sophie Salfeld) mit dem Arztsohn Niki (Nikolai Gemel) zu arrangieren. Doch das passt der eigenständigen Lea Sophie gar nicht in den Kram, denn sie ist verliebt in Fabian (Fabian Dott).
Lenk schafft es so, ein historisches Stück durch aktuelle Bezüge, wie den Arztsohn Niki, der 2020 in Wuhan war und den Vorschlag Philippes, seine Tochter solle doch Virologin werden, greifbarer zu machen und leicht verständliche Komik einzubringen. Denn die Inszenierung ist skurril. Zwischen Philippe Goos, der den eingebildeten Kranken in überragender Manier auf die Spitze des Eisbergs spielt, den Kostümen, die aus einer anderen Zeit entsprungen sind, und der Kulisse, die einem Erste-Hilfe-Koffer ähnelt und voller überteuerter oder gar nutzlos wirkender Anwendungen steht, wird der Subtext dennoch klar. Es geht nicht um Hypochondrie, sondern um das Verlangen geliebt zu werden, das Philippe zu heilen versucht, in dem er die Leute um sich herum sowohl durch sein unendlich scheinendes Geld besticht, als auch durch seine Krankheiten, die das Doktorduo Doppelbauer sich bei jedem Besuch auf ein neues aus den Rippen leiert.
Insbesondere bei seiner Ehefrau Miriam (Miriam Maertens) intensiviert sich sein Wehleiden, welches begleitet wird von chorischem Gurren des Ehepaars. So sind ebenfalls die Kostüme ein Augenmerk der Inszenierung. Zwischen Vokuhila, Mustern der 70er und 80er und Philippes millennial-pinkenm Anzug scheint Philippes Schwester Sabine (Sabine Orléans) die einzig Vernünftige zu sein in ihrer weißen Kleidung. Auch die musikalischen Einlagen, die begleitet werden von atmosphärischer Musik und langsamem, gefühlvollem Tanz, tragen zum überspitzten Spiel der Schauspieler bei. Nicht zu vergessen ist außerdem das Duett der beiden Liebenden, Lea Sophie und Fabian, das ihrem Vater so unverblümt ihre Liebe erklärt. Nichtsdestotrotz sind die musikalischen Einlagen einer der wenigen Punkte, die von Molières Originalfassung übrig bleiben. Doch eben diese Entfremdung, Neuerfindung des Stückes macht es so unterhaltsam, nahbar und aktuell. Es wird dem Publikum unterschwellig aufgezeigt, was wir alle so schmerzlich durch die Pandemie lernen mussten. Das Leben ist kaum kontrollierbar und die Nähe zu Menschen ist ein unumgängliches Bedürfnis. Auch für Narzissten wie Philippe, die sich selber den Finger in den Hals stecken und mit Beleidigungen um sich werfen. Trotz dessen kann das Stück keineswegs als Corona-Theater beschrieben werden, auch wenn die Themen Medizin und Krankheit allgegenwärtig sind. Es kann viel mehr als gesellschaftskritisches Theater beschrieben werden, auch wenn es aufgrund des Genres auf einer anderen Ebene stattfindet. Diese Thematik tut sich im Subtext auf.
Die Reaktionen des Publikums sind also kaum nötig zu beschreiben. Ein Mix aus lautem Lachen, leisem Kichern, gelegentlicher Stille und tosendem Applaus am Ende der Vorstellung. Das Gefühl, nachdem die Vorstellung vorbei ist, lässt sich dank der besonderen Leistung Philippe Goos‘ und seiner Mitschauspieler/-Innen als erheitert und amüsiert bezeichnen. Erst beim zweiten Gedanken werden die Feinheiten, Implikationen und Doppeldeutigkeiten klarer, die das Publikum zum Nachdenken anregen sollen, so könnte man vermuten.
„Der eingebildete Kranke“ von Molière unter der Regie von Anne Lenk hatte seine Premiere im September 2021 und wird im Schauspielhaus Hannover aufgeführt.